Amnesty Report Mexiko 24. April 2024

Mexiko 2023

Ein Mann an einem Zaun, daran hängen Protestplakate.

Ein Journalist nimmt am 17. November 2023 teil an einer Protestveranstaltung in Ciudad Juárez im mexikanischen Bundesstaat Chihuahua anlässlich des Mordes an dem Fotojournalisten Ismael Villagomez Tapia.

Berichtszeitraum: 1. Januar 2023 bis 31. Dezember 2023

Die Behörden kriminalisierten weiterhin die Rechte auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Menschenrechtsverteidiger*innen, die sich für Landrechte und Umweltschutz einsetzten, wurden wegen ihres Engagements strafrechtlich verfolgt. Zahlreiche Journalist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen wurden getötet. Die Regierung bot Flüchtlingen und Migrant*innen nach wie vor keinen ausreichenden Schutz. Der Oberste Gerichtshof entschied jedoch, dass die Aufenthaltsdauer in einer Hafteinrichtung für Migrant*innen maximal 36 Stunden betragen dürfe. Der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen verbesserte sich, nachdem der Oberste Gerichtshof die Kriminalisierung des Eingriffs für verfassungswidrig erklärte. Die Zahl der Feminizide war weiterhin sehr hoch, und die entsprechenden Fälle wurden nicht ordnungsgemäß untersucht. (Der in Mexiko verwendete Begriff "Feminizid" statt "Femizid" verdeutlicht die politische Dimension von Morden an Frauen aufgrund weitgehender Straflosigkeit.) Seit 1962 galten in Mexiko mehr als 114.000 Menschen als vermisst bzw. verschwunden. Für Angehörige, die nach verschwundenen Familienmitgliedern suchten, bestand ein hohes Risiko, bedroht, schikaniert oder getötet zu werden bzw. ebenfalls dem Verschwindenlassen zum Opfer zu fallen. Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte entschied, dass Mexiko die Haft ohne Anklage (Arraigo) abschaffen und das System der Untersuchungshaft ändern müsse. Die Unabhängigkeit der Justiz war weiterhin bedroht, u. a. durch die willkürliche Inhaftierung von Richter*innen. Die Bauarbeiten für das Bahnprojekt Maya-Zug wurden trotz Umweltbedenken fortgesetzt. Die Regierung ergriff keine Maßnahmen, um die Nutzung fossiler Brennstoffe zu beenden, vielmehr nahm die Ölraffinerie Dos Bocas ihren Betrieb auf. In einigen Bundesstaaten standen bezüglich der gleichgeschlechtlichen Ehe noch Änderungen der Zivilgesetzbücher aus.

Hintergrund

Die Zahl der Morde und der Fälle von Verschwindenlassen war in den 16 Jahren, in denen das Militär an Einsätzen im Bereich der öffentlichen Sicherheit beteiligt war, angestiegen.

Die Nationale Menschenrechtskommission stellte fest, dass Angehörige der Nationalgarde – die nationale Polizeiaufgaben wahrnahm – und des Militärs im Jahr 2023 in 28 Fällen schwere Menschenrechtsverletzungen verübt hatten. Dazu zählten völkerrechtliche Verbrechen wie Folter, außergerichtliche Hinrichtungen und Verschwindenlassen. 

Im April 2023 entschied der Oberste Gerichtshof, dass die Übertragung des Kommandos über die Nationalgarde an das Verteidigungsministerium verfassungswidrig sei. Laut Verfassung sei die Nationalgarde eine zivile Einrichtung, und ihre Aufgaben müssten vom Ministerium für öffentliche Sicherheit und Bevölkerungsschutz vorgegeben werden. Im Oktober 2023 beharrte die Exekutive (der Präsident) jedoch darauf, dass die Nationalgarde gute Arbeit geleistet habe und kündigte an, sich erneut an den Kongress wenden zu wollen, um die Nationalgarde dem Verteidigungsministerium unterstellen zu können. Gleichzeitig bestritt der Präsident Vorwürfe über Menschenrechtsverletzungen, die von Betroffenen, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Menschenrechtler*innen gegen die Nationalgarde erhoben wurden.

Dem Verteidigungsministerium wurden weiterhin Mängel bezüglich Transparenz, Rechenschaftslegung und Informationsbereitschaft attestiert. Im Oktober 2023 veröffentlichte die Kommission für Wahrheit, Aufklärung und Gerechtigkeit für schwere Menschenrechtsverletzungen von 1965 bis 1990 (Comisión para el Acceso a la Verdad, el Esclarecimiento Histórico y el Impulso a la Justicia de las Violaciones graves a los Derechos Humanos cometidas de 1965 a 1990) einen Bericht. Darin beklagte sie, dass das Verteidigungsministerium den Zugang zu historischen Dokumenten über Menschenrechtsverletzungen blockiere, die im Zuge der politischen Repression von 1965 bis 1990 verübt wurden.

Recht auf friedliche Versammlung

Die Behörden kriminalisierten weiterhin Menschen, die ihr Recht auf Protest ausübten. Sie gingen mit übermäßiger Gewalt gegen sie vor und nutzten das Justizsystem in unverhältnismäßiger Weise, um Personen strafrechtlich zu verfolgen, die sich für Landrechte und Umweltschutz einsetzten. In San Cristóbal de las Casas (Bundesstaat Chiapas) wurden Vorstandsmitglieder der Siedlung Colonia Maya der Entführung beschuldigt, weil sie gegen den Bau von Wohnhäusern in einem Naturschutzgebiet protestiert hatten. Im März und Juli 2023 wurden die Nahua-Rundfunkjournalisten und Menschenrechtsverteidiger Miguel López Vega und Alejandro Torres Chocolatl in Zacatepec (Bundesstaat Puebla) freigesprochen. Ihnen war "Behinderung öffentlicher Arbeiten" zur Last gelegt worden, weil sie gegen den Bau eines Abwasserkanals protestiert hatten, der den Metlapanapa-Fluss verunreinigen würde. Im Mai 2023 wurden die beiden indigenen Tseltal-Menschenrechtsverteidiger César Hernández Feliciano und José Luis Gutiérrez Hernández in Chilón (Bundesstaat Chiapas) des "Aufruhrs" für schuldig befunden, weil sie sich dem Bau einer Kaserne der Nationalgarde auf ihrem angestammten Land widersetzt hatten. Im März 2023 wurden die Maya-Menschenrechtsverteidiger Juan Diego Valencia Chan, Arturo Albornoz May und Jesús Ariel Uc Ortega in Sitilpech (Bundesstaat Yucatán) wegen "Angriffen auf Straßen" angeklagt. Sie hatten sich gegen eine große Schweinefarm auf ihrem Territorium gewehrt, die die Umwelt verschmutzte, das Wasser verunreinigte und Gesundheitsprobleme verursachte.

Im September 2023 räumten die Behörden der Stadt León (Bundesstaat Guanajuato) den Einsatz exzessiver Gewalt gegen Frauen ein, die im Jahr 2020 gegen geschlechtsspezifische Gewalt protestiert hatten, und entschuldigten sich bei den Betroffenen.

Exzessive Gewaltanwendung

Das Militär wandte 2023 weiterhin unnötige und unverhältnismäßige Gewalt an und verübte außergerichtliche Hinrichtungen. Diese Verbrechen und weitere Menschenrechtsverletzungen blieben weiterhin straflos. 

Am 26. Februar 2023 wurden fünf junge Männer, die in einem Pick-up in der Stadt Nuevo Laredo (Bundesstaat Tamaulipas) unterwegs waren, mutmaßlich von Soldaten getötet. Am 18. Mai 2023 zeigte eine Überwachungskamera, wie Angehörige der Streitkräfte in Nuevo Laredo mutmaßlich fünf weitere Männer töteten. Nachdem sich das Video verbreitet hatte, leitete die Nationale Menschenrechtskommission eine Untersuchung des Falls ein. Sie stellte schwere Menschenrechtsverletzungen fest und empfahl der Armee, bei den Ermittlungen mit der Staatsanwaltschaft zusammenzuarbeiten und die Familien der Opfer finanziell und psychologisch zu unterstützen.

Im Oktober 2023 stellte ein Strafgericht in der Stadt Monterrey (Bundesstaat Nuevo León) fest, dass für die im Jahr 2010 erfolgte außergerichtliche Hinrichtung der beiden Studenten des Instituto Tecnológico y de Estudios Superiores de Monterrey, Jorge Antonio Mercado Alonso und Javier Francisco Arredondo Verdugo, Armeeangehörige strafrechtlich verantwortlich waren. 

Die Präsenz des Militärs im öffentlichen Raum nahm zu. Im Januar 2023 wurden 6.060 Angehörige der Nationalgarde aus Sicherheitsgründen vorübergehend in der U-Bahn von Mexiko-Stadt eingesetzt. Lokale NGOs erklärten, die Maßnahme sei unangemessen und trage nicht zu erhöhter Sicherheit bei, da das Hauptproblem der U-Bahn darin bestehe, dass sie schlecht gewartet sei.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Journalist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen waren weiterhin stark gefährdet. Nach Angaben der Organisation Article 19 wurden 2023 mindestens fünf Journalisten vermutlich im Zusammenhang mit ihrer Arbeit getötet. Ein 2023 veröffentlichter Bericht der NGO Global Witness stellte fest, dass im Vorjahr 31 Landrechtsverteidiger*innen und Umweltschützer*innen getötet wurden. Laut Angaben des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte wurden im Laufe des Jahres 2023 mindestens 13 Menschenrechtler*innen getötet. Der Schutzmechanismus für Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalist*innen (Mecanismo de Protección para Personas Defensoras de Derechos Humanos y Periodistas) registrierte das Jahr über mindestens 188 Fälle, in denen Menschenrechtler*innen und Journalist*innen entführt, bedroht oder tätlich angegriffen wurden.

Im April und Mai 2023 wurden neue Fälle von Überwachung durch die Pegasus-Spionagesoftware bekannt. Betroffen waren zwei Mitglieder der Menschenrechtsorganisation Centro Prodh sowie der Staatssekretär für Menschenrechte Alejandro Encinas. Die Überwachung könnte damit zusammenhängen, dass sie mit schweren Menschenrechtsverletzungen wie dem Fall Ayotzinapa (siehe "Verschwindenlassen") befasst waren. 

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Die Zahl der Migrant*innen, Asylsuchenden und Flüchtlinge, die nach Mexiko kamen, um von dort aus in die USA oder nach Kanada weiterzureisen, stieg an. Nach Angaben der mexikanischen Flüchtlingsbehörde beantragten 141.053 Menschen im Jahr 2023 Asyl in Mexiko. Die meisten von ihnen kamen aus Haiti, Honduras, Kuba, Guatemala und El Salvador.

Die Behörden ergriffen nach wie vor keine ausreichenden Maßnahmen, um die Rechte auf Leben und Sicherheit von Migrant*innen, Asylsuchenden und Flüchtlingen zu schützen. Am 28. März 2023 starben bei einem Brand in einer Hafteinrichtung für Migrant*innen in der Stadt Ciudad Juárez (Bundesstaat Chihuahua) mindestens 40 Migranten, 29 weitere wurden ins Krankenhaus eingeliefert. Berichten zufolge waren die Männer bei Ausbruch des Feuers hinter verriegelten Türen zurückgelassen worden.

Im März 2023 fällte der Oberste Gerichtshof ein wegweisendes Urteil, indem er erklärte, dass die maximale Aufenthaltsdauer in einer Hafteinrichtung für Einwander*innen 36 Stunden betragen dürfe. Danach müssten die Migrant*innen und Asylsuchenden freigelassen werden. Das Gericht stellte außerdem fest, dass Migrant*innen und Flüchtlinge zum Schutz ihrer Rechte eine angemessene rechtliche Verteidigung haben müssen.

Frauenrechte

Die Regierung kam der Forderung nach, öffentliche Denkmäler zum Gedenken an Frauenrechtlerinnen zu erhalten. Im Juni 2023 zäunten die Behörden von Mexiko-Stadt ein auf einer Verkehrsinsel errichtetes Denkmal für kämpfende Frauen (Glorieta de las mujeres que luchan) ein, um es später zu entfernen. Als zivilgesellschaftliche Organisationen und Frauenrechtler*innen dagegen protestierten, willigte der Bürgermeister von Mexiko-Stadt, Martí Batres Guadarrama, ein, das Denkmal zu belassen. 

Der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen verbesserte sich. Im September 2023 erklärte der Oberste Gerichtshof in einem von feministischen Organisationen angestrengten Verfahren, die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen im Strafgesetzbuch sei verfassungswidrig. Dem Urteil zufolge waren die Behörden verpflichtet, Frauen und allen Menschen, die schwanger werden können, den Zugang zu einem Schwangerschaftsabbruch zu garantieren. Der Oberste Gerichtshof stellte zudem fest, dass es verfassungswidrig sei, medizinisches Personal und Hebammen wegen der Durchführung oder Unterstützung von Schwangerschaftsabbrüchen zu entlassen, da dies diskriminierend sei. 

Es gab weiterhin sehr viele Fälle von sexualisierter Gewalt und Feminiziden, doch fehlte es an der nötigen Sorgfalt, um diese Verbrechen ordnungsgemäß zu untersuchen. Nach Angaben der zuständigen Behörde wurden im Jahr 2023 im Durchschnitt neun Frauen pro Tag ermordet. In Ciudad Juárez (Bundesstaat Chihuahua), wo vor 30 Jahren mit der Dokumentation von Feminiziden begonnen worden war, gab es für viele Opfer noch immer keine Gerechtigkeit. Lokale Organisationen, Familien der Opfer und Amnesty International gedachten öffentlich der getöteten Frauen.

Im Januar 2023 richtete der Bundesstaat San Luis Potosí auf Drängen von Familien, die eine ordnungsgemäße Untersuchung der Feminizide forderten, eine Staatsanwaltschaft ein, die speziell für Feminizide zuständig war. Im Februar 2023 räumte die Generalstaatsanwaltschaft des Bundesstaats México Unzulänglichkeiten bei den Ermittlungen zu den Feminiziden an Nadia Muciño Márquez, Daniela Sánchez Curiel, Diana Velázquez Florencio und Julia Sosa Conde ein und entschuldigte sich öffentlich.

Verschwindenlassen

Die Zahl der vermissten und verschwundenen Personen war weiterhin hoch. Im Jahr 2023 gab es laut der Nationalen Suchkommission (Comisión Nacional de Búsqueda) mindestens 12.031 neue Fälle vermisster und verschwundener Menschen – 8.426 Männer, 3.596 Frauen und neun Personen, die nicht identifiziert werden konnten. Offiziellen Angaben zufolge wurden von 1962 bis Ende 2023 insgesamt 114.004 Menschen als vermisst oder verschwunden registriert.

Angehörige, die nach verschwundenen Familienmitgliedern suchten, liefen Gefahr, bedroht, schikaniert oder getötet zu werden bzw. ebenfalls dem Verschwindenlassen zum Opfer zu fallen. Im Mai 2023 wurde in Celaya (Bundesstaat Guanajuato) Teresa Magueyal ermordet, die seit 2020 nach ihrem Sohn gesucht hatte. Im Oktober 2023 wurde Griselda Armas, die seit September 2022 nach ihrem Sohn gesucht hatte, zusammen mit ihrem Ehemann in Tacámbaro (Bundesstaat Michoacán) getötet. Im August 2023 wurden Familien, die auf der Suche nach verschwundenen Personen Zugang zum Institut für forensische Wissenschaften (Servicio Médico Forense) und den Zentren für soziale Wiedereingliederung (Centros de Readaptación Social) forderten, von Beschäftigten der Generalstaatsanwaltschaft von Querétaro angegriffen und unter Druck gesetzt, den Vorfall nicht zu melden.

Im Juli 2023 veröffentlichte die unabhängige Sachverständigengruppe der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (Grupo Interdisciplinario de Expertos Independientes) ihren sechsten und letzten Bericht zum Fall der 43 Studenten aus Ayotzinapa (Bundesstaat Guerrero), die im Jahr 2014 Opfer des Verschwindenlassens geworden waren. Der Bericht wies ausdrücklich darauf hin, dass das Militär an dem Verbrechen beteiligt war, und beklagte, dass öffentliche Institutionen den Zugang zu relevanten Informationen verweigerten. Nach der Veröffentlichung des Berichts kündigte die Sachverständigengruppe ihre Abreise aus Mexiko an, weil die Behörden nicht zur Zusammenarbeit bereit seien. Präsident Andrés Manuel López Obrador reagierte auf den Bericht, indem er seine Unterstützung für die Armee zum Ausdruck brachte und zivilgesellschaftliche Opferorganisationen kritisierte. Zudem gab er bekannt, dass gegen Omar Gómez Trejo, den ehemaligen Leiter der Sondereinheit der Generalstaatsanwaltschaft für Ermittlungen und Verfahren im Fall Ayotzinapa (Unidad Especial para la Investigación y Litigación del Caso Ayotzinapa), eine strafrechtliche Untersuchung laufe. Omar Gómez Trejo war im Jahr 2022 zurückgetreten, nachdem er eine unzulässige Einmischung der Generalstaatsanwaltschaft in die Untersuchung des Falls angeprangert hatte.

Im August 2023 erklärte die Leiterin der Nationalen Suchkommission Karla Quintana ihren Rücktritt, nachdem der Präsident angekündigt hatte, die Zahl der verschwundenen Personen neu erfassen zu lassen, da die Angaben der Nationalen Suchkommission unzuverlässig und zu hoch seien. Zivilgesellschaftliche Organisationen und Menschenrechtler*innen befürchteten, dass die Exekutive versuchen könnte, die offiziellen Zahlen der Verschwundenen zu drücken, um das Versagen der staatlichen Sicherheitspolitik zu verschleiern. Im Oktober 2023 wurde Teresa Guadalupe Reyes Sahagún zur neuen Leiterin der Nationalen Suchkommission ernannt. Organisationen der Zivilgesellschaft äußerten sich besorgt über die unzureichende Konsultation, Partizipation, Transparenz und Kontrolle im Einstellungsverfahren und die mangelnde Erfahrung der neuen Leiterin. Im Dezember legte die Exekutive die neu erfasste Zahl der seit 1962 verschwundenen Personen vor, die nun niedriger lag als zuvor. Zudem erklärte sie, es lägen in 79.955 dieser Fälle nicht genügend Informationen vor, um eine Suche nach den Verschwundenen einzuleiten.

Willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen

Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte strafte Mexiko 2023 in zwei Fällen willkürlicher Inhaftierung ab. Der erste Fall betraf die willkürliche Inhaftierung von drei Männern im Jahr 2006, zwei von ihnen Indigene, darunter Jorge Marcial Tzompaxtle Tecpile. Die Männer waren von der Polizei festgenommen und mehr als drei Monate lang ohne Anklage oder Gerichtsverfahren in Haft (Arraigo-Haft) gehalten worden. Anschließend befanden sie sich zwei Jahre lang in Untersuchungshaft. Der zweite Fall betraf Daniel García Rodríguez und Reyes Alpízar Ortiz, die sich wegen mutmaßlicher Beteiligung an einem Mord mehr als 17 Jahre lang zunächst in Arraigo-Haft und dann in Untersuchungshaft befanden und dabei gefoltert und anderweitig misshandelt wurden. 

In beiden Fällen wies der Gerichtshof Mexiko an, die rechtlichen Grundlagen zu reformieren, die Arraigo-Haft abzuschaffen und das System der Untersuchungshaft zu ändern, da die automatische Untersuchungshaft gegen die Amerikanische Menschenrechtskonvention verstoße.

Im September 2023 forderte die UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen die mexikanischen Behörden auf, die Bestimmungen bezüglich der automatischen Untersuchungshaft und der Arraigo-Haft aus der Verfassung zu entfernen. Die Arbeitsgruppe äußerte sich zudem besorgt über die Militarisierung der inneren Sicherheit, die exzessive Anwendung von Gewalt bei Festnahmen und Fälle von Freiheitsentzug im Zuge der seit 2006 verschärften Drogenpolitik.

Der Präsident erhob weiterhin öffentliche Anschuldigungen gegen den Obersten Gerichtshof und die Justiz, wenn deren Entscheidungen seinen Plänen zuwiderliefen. Im Juni 2023 wurde die Richterin Angélica Sánchez aus dem Bundesstaat Veracruz wegen "Verbrechen gegen das öffentliche Vertrauen und missbräuchlicher Einflussnahme" angeklagt, nachdem sie entschieden hatte, einen des Mordes angeklagten Mann aus Mangel an Beweisen freizulassen. Eine für Entführungen und schwere Verbrechen zuständige Einheit von Polizei und Nationalgarde (Coordinación Nacional Antisecuestro y Delitos de Alto Impacto) inhaftierte sie in Mexiko-Stadt in Abstimmung mit der Generalstaatsanwaltschaft von Veracruz. Die staatliche juristische Ombudsstelle (Instituto Federal de la Defensoría Pública) bezeichnete die Inhaftierung von Angélica Sánchez als Angriff auf die Unabhängigkeit der Justiz. Es gab Hinweise auf schwerwiegende Unregelmäßigkeiten, so wurde u. a. der Vorwurf laut, ihre Inhaftierung sei willkürlich und die Einheit sei nicht befugt gewesen, die Richterin zu inhaftieren. Im Juli 2023 wurde Angélica Sánchez aus dem Gefängnis entlassen und unter Hausarrest gestellt. 

Recht auf eine gesunde Umwelt

Die Bauarbeiten für den Maya-Zug (Tren Maya), eine 1.525 Kilometer lange Bahnstrecke durch die Halbinsel Yucatán, gingen 2023 weiter. Das Projekt bedrohte die Natur im Süden Mexikos sowie das Recht auf eine saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt. Umweltschützer*innen und zivilgesellschaftliche Organisationen warfen der Regierung vor, sich bei dem Bauprojekt nicht an die Umweltgesetzgebung zu halten. Sie wiesen zudem darauf hin, dass sich das Projekt negativ auf das Ökosystem auswirke, insbesondere auf das unterirdische Wassersystem im Südosten des Landes. Die Umweltgesetzgebung verpflichtete die Behörden, die Umwelt zu schützen und bei öffentlichen Bauvorhaben Umweltverträglichkeitsprüfungen vorzunehmen. Die Kommission für Umweltzusammenarbeit (Comisión de Cooperación Ambiental), die im Zuge des ersten Freihandelsvertrags zwischen Mexiko, den USA und Kanada gegründet wurde, empfahl den mexikanischen Behörden, einen Bericht über die Risiken und Auswirkungen des Projekts zu erstellen.

Die Regierung förderte auch weiterhin die Produktion und Nutzung fossiler Brennstoffe. Die im Jahr 2022 von den Behörden eröffnete Raffinerie Dos Bocas im Bundesstaat Tabasco nahm im Jahr 2023 ihren Betrieb auf.

Am 1. November 2023 wurden 84 Menschen aus dem Küstenort El Bosque (Bundesstaat Tabasco) evakuiert, weil der Meeresspiegel infolge der Klimakrise angestiegen war. Die Betroffenen verlangten von den Behörden eine Neuansiedlung an einem anderen Ort und die Bereitstellung von Unterkünften, Schulen und anderen grundlegenden öffentlichen Dienstleistungen. Die Regierung versprach zwar, sie umzusiedeln, war dem aber bis zum Jahresende nicht nachgekommen.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)

Seit 2015 hatten alle 32 Bundesstaaten die gleichgeschlechtliche Ehe eingeführt, doch hatten einige ihre Zivilgesetzbücher noch nicht entsprechend geändert. Im Juni 2023 reformierte das Parlament des Bundesstaats Nuevo León sein Zivilgesetzbuch dahingehend, dass zwei Personen ab einem Alter von 18 Jahren unabhängig von ihrem Geschlecht heiraten können. Zu den Bundesstaaten, in denen entsprechende Anpassungen noch ausstanden, gehörten Aguascalientes, Chiapas und Chihuahua. 

Recht auf Gesundheit

Im Mai 2023 wurde das Allgemeine Gesetz über das Gesundheitswesen (Ley General de Salud) dahingehend geändert, dass Personen ohne staatliche Krankenversicherung über Dienste des Mexikanischen Instituts für Soziale Sicherheit (Servicios de Salud del Instituto Mexicano del Seguro Social para el Bienestar) kostenlosen Zugang zu Gesundheitsdiensten, Medikamenten und anderen Leistungen erhalten. Dies betraf Personen ohne reguläre Beschäftigung, für die kein Arbeitgeber Beiträge für die staatliche Gesundheitsfürsorge entrichtete, sowie Personen, die keine Familienangehörigen mit einem offiziellen Arbeitsverhältnis hatten, und Personen, die nicht studierten. Obwohl die Änderungen darauf abzielten, das Recht auf Gesundheit vor allem für besonders schutzbedürftige Menschen zu garantieren, wiesen Aktivist*innen und Organisationen, die für das Recht auf Gesundheit eintraten, darauf hin, dass das Mexikanische Institut für soziale Sicherheit nicht über ausreichende wirtschaftliche Ressourcen verfüge, um das Recht zu gewährleisten.

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