Amnesty Report Frankreich 16. April 2020

Frankreich 2019

Eine Menschenmenge, im Vordergrund Personen, die Schilder hochhalten

Vom Komitee Adama organisierte Proteste gegen Polizeigewalt im französischen Beaumont-sur-Oise am 20. Juli 2019

Die Behörden schränkten das Recht auf Versammlungsfreiheit unverhältnismäßig stark ein. Bei Polizeieinsätzen gegen Demonstrierende wurden Tausende Menschen verletzt, aus fadenscheinigen Gründen festgenommen und wegen Handlungen, die durch Menschenrechtsnormen geschützt sind, strafrechtlich verfolgt. Immer wieder wurden Menschenrechtsbeobachter_innen, unabhängige Journalist_innen, Umweltaktivist_innen und Menschen, die sich für die Rechte von Flüchtlingen und Migrant_innen einsetzen, von der Polizei eingeschüchtert und schikaniert. Frankreich exportierte weiterhin Waffen an Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, obwohl die Gefahr bestand, dass diese im Jemen eingesetzt wurden, um Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung zu begehen.

Recht auf Versammlungsfreiheit

Die Bewegung der "Gelbwesten" (gilets jaunes), die im November 2018 begonnen hatte, setzte ihre Aktivitäten 2019 das gesamte Jahr über fort. Ihr erklärtes Ziel war es, mehr soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit zu erreichen.

Offiziellen Angaben zufolge wurden bei den Protesten der Gelbwesten 1.944 Ordnungskräfte und 2.945 Demonstrierende verletzt.

Die Polizei ging sehr oft mit willkürlicher oder unverhältnismäßiger Gewalt vor, insbesondere bei Demonstrationen, aber auch bei anderen Anlässen. Häufig setzte sie gefährliche Waffen wie unpräzise Gummigeschosse und Tränengasgranaten (GLI-F4) ein, die bei öffentlichen Versammlungen nicht verwendet werden sollten. Mindestens 25 Demonstrierende verloren dadurch ein Auge, fünf weitere verloren eine Hand. Der 24-jährige Steve Maia Caniço und die 80-jährige Zineb Redouane kamen bei Polizeieinsätzen ums Leben.

Im März 2019 empfahl die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, die Vorwürfe übermäßiger Gewaltanwendung durch die Polizei "umfassend zu untersuchen". Ende 2019 hatten die Behörden jedoch noch kein unabhängiges Verfahren etabliert, um entsprechenden Vorwürfen nachzugehen. Eine mit der Untersuchung der Vorwürfe betraute Polizeieinheit (Inspection Générale de la Police Nationale –IGPN) hatte im Oktober in 313 Fällen strafrechtliche Ermittlungen seit Beginn der Gelbwesten-Bewegung eingeleitet. Ende 2019 war nur ein Polizeibeamter wegen rechtswidriger Gewaltanwendung während der Proteste verurteilt worden.

Im August räumte der Staatspräsident ein, man müsse die Strategie der Polizeieinsätze bei öffentlichen Versammlungen überprüfen, um die Zahl der Verletzungen zu reduzieren. Zum Jahresende hatte eine vom Innenministerium eingesetzte Arbeitsgruppe mit der Ausarbeitung einer neuen Strategie begonnen.

Im ersten Halbjahr 2019 kamen rund 11.000 Demonstrierende ohne Anklage in Gewahrsam, und mehr als 3.000 Personen wurden verurteilt, meist in Schnellverfahren. Hunderte Demonstrierende wurden inhaftiert und wegen Herabwürdigung von Amtsträger_innen, Verschleierung des Gesichts, Verstoß gegen die Anmeldepflicht oder anderen Handlungen strafrechtlich verfolgt, die laut Menschenrechtsnormen keine Straftaten darstellen. In den ersten neun Monaten des Jahres verurteilten Gerichte 954 Demonstrierende wegen "Bildung einer Gruppe mit der Absicht, Gewalt anzuwenden". Die vage definierte Straftat ermöglichte auch die Festnahme von Protestierenden, die an keinerlei gewaltsamen Aktionen beteiligt waren.

Im April 2019 trat ein neues Gesetz zum Schutz der öffentlichen Ordnung in Kraft, das Gesichtsbedeckungen bei Protesten grundsätzlich verbietet.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Hunderte Journalist_innen erklärten, dass sie bei der Berichterstattung über die Proteste Verletzungen davongetragen hatten. Allein am 5. Dezember 2019 wurden bei Protesten gegen die Rentenreform 34 Journalist_innen verletzt, meist wegen übermäßiger oder willkürlicher Gewaltanwendung seitens der Polizei. Die unabhängigen Journalisten Gaspard Glanz und Taha Bouhafs wurden festgenommen und unter anderem wegen Polizistenbeleidigung und Aufruhrs strafrechtlich verfolgt. Glanz wurde im November wegen Herabwürdigung von Amtsträger_innen zu einer Geldstrafe von 300 Euro verurteilt.

Im Zuge einer Voruntersuchung zu den als geheim eingestuften "Jemen-Papieren" bestellte der Inlandsgeheimdienst (Direction Générale de la sécurité intérieure) mindestens neun Journalist_innen zur Vernehmung ein. Französische Medien hatten die Dokumente veröffentlicht, die bewiesen, dass die Waffen, die die Regierung an Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate verkauft hatte, wahrscheinlich gegen die Zivilbevölkerung des Jemen eingesetzt wurden.

Waffenhandel

Frankreich verstieß weiterhin gegen seine Verpflichtungen aus dem 2014 ratifizierten internationalen Waffenhandelsabkommen, demzufolge keine Waffen exportiert werden sollten, wenn ein großes Risiko besteht, dass damit Verstöße gegen die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht verübt werden. 2018 waren Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate trotz ihrer Beteiligung am Jemen-Konflikt der größte bzw. fünftgrößte Empfänger von Kriegsmaterial aus Frankreich.

Nach Angaben des Stockholmer Internationalen Friedensforschungsinstituts (SIPRI) war Frankreich 2019 der drittgrößte Waffenexporteur weltweit. Die französische Regierung legte allerdings keine detaillierten, umfassenden und aktuellen Informationen über die vom Premierminister genehmigten Rüstungstransfers vor.

Menschenrechtsverteidiger_innen

Umweltaktivist_innen und Menschen, die sich für die Rechte von Flüchtlingen und Migrant_innen einsetzten, wurden häufig schikaniert, eingeschüchtert oder strafrechtlich verfolgt.

Loan Torondel, der sich in Calais für die Rechte von Migrant_innen engagierte, wurde wegen Verleumdung schuldig gesprochen und mit einer zur Bewährung ausgesetzten Geldstrafe belegt, weil er die Misshandlung von Migrant_innen durch die Polizei angezeigt hatte. Im Juni 2019 wurde Tom Ciotkowski, ein junger britischer Aktivist in Calais, von den Anklagepunkten Missachtung einer Amtshandlung und Körperverletzung freigesprochen. Im Mai hatte er bei der Polizeiaufsichtsbehörde IGPN Beschwerde gegen einen Polizeibeamten eingereicht, der ihn fast vor einen LKW gedrängt hatte, sowie gegen weitere Beamte, die durch falsche Angaben zu seiner Inhaftierung und Strafverfolgung beigetragen hatten. Die Ermittlungen waren Ende 2019 noch nicht abgeschlossen. Die Strafverfolgung in diesen beiden Fällen war typisch für die Kriminalisierung solidarischer Aktionen in Europa und dürfte sich abschreckend auf andere Aktivist_innen auswirken.

Im Dezember 2018 hatte Frankreich angekündigt, man werde dem Schutz von Menschenrechtsverteidiger_innen weltweit Priorität einräumen. 2019 gab es jedoch noch keine einheitliche und nachhaltige Strategie zur Umsetzung dieses Vorhabens. Der Außenminister kritisierte zwar die Schikanen, denen Menschenrechtsverteidiger_innen in der Türkei und in Russland ausgesetzt waren, was Menschenrechtsverteidiger_innen in Saudi-Arabien anging, schwiegen die Behörden jedoch.

Flüchtlinge und Asylsuchende

Im ersten Halbjahr 2019 wurden 33.628 Migrant_innen und Flüchtlinge, darunter auch unbegleitete Minderjährige, an den französischen Grenzen aufgehalten und nach Italien und Spanien zurückgeschoben, ohne die Möglichkeit zu erhalten, in Frankreich Asyl zu beantragen.

Im Jahr 2018 waren 690 irakische, 320 iranische, 278 afghanische, 247 sudanesische, 165 eritreische und 133 syrische Staatsangehörige, deren Asylanträge abgelehnt worden waren, in Abschiebehaft genommen worden. Ihnen stand die Rückführung in ihr Heimatland bevor, obwohl ihnen dort schwere Menschenrechtsverletzungen drohten. Auch mehrere Familien mit Kindern waren betroffen. Im Juni 2019 berichteten Nichtregierungsorganisationen, 2018 seien zwölf Personen in den Sudan, sieben in den Iran und zehn in den Irak zurückgeführt worden.

Im September 2019 ratifizierte das Parlament das Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Union und Afghanistan, das die Rückführung afghanischer Staatsangehöriger in ihr Herkunftsland erleichtert. Im selben Monat wurden zwei Personen, deren Asylanträge abgelehnt worden waren, nach Afghanistan abgeschoben, wo ihnen schwere Menschenrechtsverletzungen drohten.

Im November 2019 machte die französische Regierung ihre Entscheidung rückgängig, der libyschen Marine und Küstenwache sechs Boote zur Verfügung zu stellen. Ein Zusammenschluss von acht Nichtregierungsorganisationen hatte die vom französischen Verteidigungsminister im Februar angekündigte "Schiffsspende" gerichtlich angefochten und argumentiert, die Boote würden dazu genutzt, um Flüchtlinge und Migrant_innen abzufangen und sie nach Libyen zurückzubringen, wo sie schwere Menschenrechtsverletzungen erlitten.

Auch 2019 wurden Menschen, die Flüchtlingen und Migrant_innen humanitäre Hilfe leisteten, strafrechtlich verfolgt und verurteilt, insbesondere an der französisch-italienischen Grenze bei Briançon. Im Januar wurde Pierre Mumber wegen "Erleichterung der illegalen Einreise" zu einer dreimonatigen Bewährungsstrafe verurteilt, weil er Migrant_innen in der Nähe der französisch-italienischen Grenze mit Tee und warmer Kleidung versorgt hatte. Im November wurde er im Berufungsverfahren freigesprochen.

Diskriminierung

Sexuelle und reproduktive Rechte

Am 24. Juli 2019 brachte die Regierung im Parlament einen Gesetzentwurf ein, der allen Frauen unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung oder ihrem Familienstand Zugang zur In-vitro-Fertilisationsbehandlung gewähren soll. Sollte er verabschiedet werden, würde das Gesetz die Diskriminierung von lesbischen Paaren und alleinstehenden Frauen beim Zugang zu sexuellen und reproduktiven Gesundheitsleistungen beenden. Am 15. Oktober nahm die Nationalversammlung den Gesetzentwurf an, Ende des Jahres war er noch im Senat anhängig.

Religions- und Glaubensfreiheit

Am 29. Oktober 2019 verabschiedete der Senat ein Gesetz, das Eltern das Tragen religiöser Symbole verbietet, wenn sie ihre Kinder bei Schulausflügen begleiten. Ende des Jahres war das Gesetz vor der Nationalversammlung anhängig. Die Verabschiedung des Gesetzes würde einen Verstoß gegen die Rechte auf freie Meinungsäußerung und auf Religions- und Glaubensfreiheit darstellen und Muslim_innen aus Gründen der Religion oder des Glaubens diskriminieren.

Zwangsräumungen

Nach Angaben von Nichtregierungsorganisationen wurden das ganze Jahr über Tausende Menschen, darunter viele Roma, Migrant_innen und Flüchtlinge, die in informellen Siedlungen lebten oder Gebäude und andere Unterkünfte ohne gesicherte Besitzverhältnisse besetzt hatten, Opfer rechtswidriger Zwangsräumungen.

Hassverbrechen

Im März 2019 berichteten Nichtregierungsorganisationen, dass 38 Hassverbrechen gegen Roma verübt wurden, die in informellen Siedlungen im Großraum Paris lebten, nachdem in den sozialen Medien Gerüchte verbreitet worden waren, Roma würden Kinder entführen. Einige der Verantwortlichen für Hassverbrechen wurden schuldig gesprochen. Am 28. Oktober 2019 versuchte ein Mann, eine Moschee in Bayonne in Brand zu stecken. Er gab Schüsse auf zwei Männer ab und verletzte sie dabei schwer.

Antiterrormaßnahmen und Sicherheit

Vom 1. November 2018 bis zum 31. Oktober 2019 ordnete der Innenminister neue Überwachungsmaßnahmen gegen 134 Personen an. Dies entsprach einer Steigerung von 84% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Zu den Maßnahmen zählten räumliche Aufenthaltsbeschränkungen, tägliche Meldungen bei der Polizei und Kontaktverbote zu bestimmten Personen. Sie wurden häufig auch dann verhängt, wenn kein begründeter Verdacht der Vorbereitung einer Straftat bestand.

Im Februar 2019 änderte das Innenministerium die Bedingungen für den zugewiesenen Aufenthalt von Kamel Daoudi, der seit 2008 Überwachungsmaßnahmen unterlag. Er durfte an einen Ort in der Nähe seiner Familie ziehen und musste sich nur noch zwei- statt dreimal am Tag auf einer Polizeiwache melden.

Internationale Strafverfolgung

Am 23. März 2019 trat eine umfassende Reform des Justizsystems in Kraft. Im November 2018 hatte sich die Regierung gegen eine Änderung ausgesprochen, die die Anwendung des Weltrechtsprinzips für völkerrechtliche Straftaten in Frankreich erleichtert hätte. Auch das Parlament stimmte schließlich gegen den Änderungsantrag.

Wirtschaft und Menschenrechte

Viele Firmen hielten sich weiterhin nicht an die Bestimmungen des Gesetzes von 2017, wonach Großunternehmen sicherstellen müssen, dass ihre geschäftlichen Aktivitäten und die ihrer Tochtergesellschaften keine schweren Menschenrechtsverstöße und Umweltschäden verursachen. Die meisten Unternehmen legten 2019 nur vage und unvollständige Pläne darüber vor, wie sie das Gesetz einzuhalten gedachten. Die Regierung ergriff keine Maßnahmen, um das im Gesetz vorgesehene Kontrollsystem zu stärken.

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